Die integrative Typografie von Anna Vives

Die integrative Typografie von Anna Vives

Anabel Herrera Veröffentlicht am 11/12/2018

Ihr Bruder Marc erzählt, dass Anna schon als kleines Mädchen gerne gemalt und geschrieben hat, um sich auszudrücken. „Zu Weihnachten hat sie sich immer Farben, Filzstifte und weißes Papier gewünscht.“ Allerdings hätte sich ihre Familie damals nicht vorstellen können, dass die künstlerische Ader von Anna einige Jahre später zum Design ihrer eigenen Schriftart führen würde – höchstwahrscheinlich der ersten der Welt, die von einer Person mit Down-Syndrom gestaltet wurde.

Alles begann im Jahr 2011. Anna Vives machte damals ihre erste Erfahrung in einem Job, der ihr jedoch gar nicht gefiel. Sie war in einem Supermarkt angestellt und ausschließlich dafür zuständig, die Einkaufswagen einzusammeln, die die Leute am Haupteingang stehen ließen. Sie fühlte sich nicht wirklich gebraucht und hatte zudem keinerlei Kontakt zu ihren Kollegen, was sie traurig machte. Daher wollte sie nicht weiter dort arbeiten, als ihr Vertrag auslief.

Nach fünf Monaten, in denen sie nur zuhause saß, nahm Marc sie mit zur Stiftung Fundación Itinerarium, die er in Barcelona leitet, „ohne zu wissen, wie sie sich dort beschäftigen könnte“. Schließlich überlegten sie sich, dass es vielleicht eine gute Idee wäre, wenn Anna Maschineschreiben lernen würde, da sie nicht am Computer schreiben konnte. „Am ersten Tag machte sie 450 Fehler, und ich sagte zu ihr: ‘Wenn du 0 Fehler machst, lade ich dich in ein Restaurant ein’“, erzählt uns Marc. Dieser Tag kam tatsächlich. Ein Jahr später legte Anna ihrem großen Bruder ein Post-it auf den Schreibtisch mit den Worten: „Marc. 0 Fehler. Restaurant.“

In diesem Jahr war Anna, mit Hilfe eines Mitarbeiters der Stiftung, voll und ganz in die Welt der Buchstaben eingetaucht. Jeden Tag klebte sie Buchstaben, die sie in Zeitungen und Zeitschriften fand, in ein Heft ein. Sie gingen gemeinsam auf die Straße, um sich Typografien in der Umgebung anzusehen, zum Beispiel an Restaurants. Manchmal legten sie auch mit Ästen Buchstaben auf dem Boden. Nach und nach lernte Anna, was ein A ist, ein B, ein C, …bis sie eines Tages, nach Abschluss dieses Rechercheprozesses, ihr eigenes Schriftsystem gestaltete. Im Jahr 2012 begann die Digitalisierung ihrer Schriftart.

Das Ergebnis all dieser Anstrengungen, die gleichzeitig auch eine große Bereicherung darstellten, ist eine Typografie, die den Namen dieses Mädchens mit Down-Syndrom trägt, und aus 126 Zeichen besteht, die dem lateinischen Alphabet entsprechen und auch Satzzeichen, Akzente und einigen Sonderzeichen umfassen. Die Schrift ist eine einzigartige, undifferenzierte Kombination aus Groß- und Kleinbuchstaben. Sie kann auf jedem Computer verwendet werden und steht kostenlos zum Herunterladen für den privaten Gebrauch zur Verfügung.

Die Typografie von Anna wurde bereits in zahlreichen, zum Teil höchst bemerkenswerten Projekten eingesetzt. Beispielsweise zeigte der FC Barcelona sie auf den Trikots seiner Spitzenmannschaft beim Torneig Gamper im Jahr 2013, und auch andere internationale Clubs, wie der River Plate, haben Annas Typografie bereits auf ihren Trikots getragen. Ebenfalls im Jahr 2013 erschien Anna in den Nachrichten Arm in Arm mit Jorge Lorenzo auf dem Podest beim Großen Preis von Katalonien. Doch nicht nur Sportler, wie Mireira Belmonte, Pau Gasol, Kilian Jornet oder Gemma Mengual, haben zur Verbreitung der Typografie beigetragen, sondern auch Restaurants wie das Sant Pau von Carme Ruscalleda oder Unternehmen wie Geox, das bereits dreimal eine vom Design dieser Typografie inspirierte Schuhkollektion herausgebracht hat.

Annas Geschichte wurde auch als Buch mit dem Titel „Si crees en mí, te sorprenderé“ erzählt und hat es bereits bis in den Vatikan geschafft. Vergangenen Juli hatte Anna tatsächlich eine Audienz beim Papst und schenkte ihm eines der Trikots von Andrés Iniesta, Exspieler des FC Barcelona.

Das wichtigste Ziel dieser Typografie ist es, die soziale Gerechtigkeit und die Bedeutung von Teamarbeit zu fördern. Das Motto der Fundación Itinerarium ist „sumando capacidades”, was so viel heißt wie „Gemeinsam sind wir stark“. Seit ihrer Gründung im Jahr 2007 fördert diese Einrichtung die Integration und Chancengleichheit von Personen mit speziellen Bedürfnissen anhand von kollaborativer Arbeit und pädagogischen Innovationen. Die Typografie von Anna ist eines der 21 aktuellen Projekte, zu denen auch die Roboter aus Recyclingmaterial von Joan gehören, einem Jungen mit Ataxie, oder die Youtube-Serie „La empresa más loca del mundo“.